Für viele Eltern ist die Geburt des eigenen Kindes der schönste Tag ihres Lebens. Doch es gibt Menschen, die überfordert die Erziehungsaufgabe. Aufgrund ihrer Lebenssituation haben sie erhebliche Schwierigkeiten, die seelische und körperliche Entwicklung ihres Kindes eigenverantwortlich zu gewährleisten. An diese Eltern richtet sich das Angebot der Mutter/Vater und Kind-Wohngruppen der Diakonischen Stiftung Ummeln.
Zwei Unterkünfte in Bielefeld-Ummeln und zwei weitere in Bad Laer und Bückeburg bieten Raum und Hilfe für Eltern, die allein nicht weiter wissen. Sie nehmen minderjährige und volljährige Mütter, Väter oder schwangere Frauen auf, die für mindestens ein Kind unter sechs Jahren sorgen müssen. Der Kontakt entsteht über das Jugendamt. Für Eltern, deren Erziehungsfähigkeit in Frage gestellt wird, ist die Wohngruppe oft die letzte Chance, die Trennung von ihrem Kind oder ihren Kindern zu vermeiden.
“Verstehe mich als Anwältin der Kinder”
Anja Moussa-Sperber leitet die Wohngruppe in Bad Laer: „Wir helfen den Bewohnern, ihren Tag mit Kind zu strukturieren. Begleiten das Füttern und Spielen oder beraten in Erziehungsfragen. Ich
verstehe mich dabei als Anwältin der Kinder. Ihr Wohl steht an oberster Stelle.“
Jede Einrichtung bietet Platz für neun Mütter oder Väter und elf Kinder. Eltern steht mit ihren Kindern ein eigenes Appartement zur Verfügung: Ein Wohn-/Schlafraum mit integrierter Küchenzeile, ein eigenes Badezimmer und ein Kinderzimmer ermöglichen ein hohes Maß an Privatsphäre. Außerdem gibt es große Gemeinschaftsräume mit Küche und Wohnzimmer und einen schönen Garten. Wer hier wohnt, bekommt eine Begleitung in allen Lebenslagen. Am Standort Bad Laer kümmern sich darum 13 Pädagogen. Rund um die Uhr sind sie für die Bewohner da. Zwei Hauswirtschaftskräfte und ein Hausmeister sorgen zusätzlich für Unterstützung.
Einen typischen Klienten gibt es hier nicht. Jede kleine Familie kommt mit einem anderen Hintergrund in die Wohngemeinschaft und kämpft mit ganz speziellen Herausforderungen. Die meisten Eltern sind zwischen 20 und 30 Jahre alt, aber sowohl eine 14-jährige als auch eine 46-jährige Mutter haben in Bad Laer schon Hilfe gefunden.
Individuelle Unterstützung
Und so individuell wie jeder Klient ist auch die Unterstützung. Direkt nach dem Einzug wird gemeinsam mit der Mutter bzw. dem Vater und dem Jugendamt besprochen, in welchen Bereichen Hilfe
notwendig ist. Für jede Familie ist in der Wohngruppe ein Bezugsbetreuer zuständig, der während des gesamten Aufenthalts ihr Hauptansprechpartner ist. Alle sechs bis acht Wochen erörtern
Klient und Betreuer in einem Pflegegespräch gemeinsam, was gut und was schlecht läuft und wie der Weg hin zu einem selbstbestimmten Leben weitergehen kann.
Anja Moussa-Sperber ist diese Transparenz wichtig. „Die Eltern müssen jederzeit wissen, wo wir sie sehen. Daher dürfen sie die Berichte, die wir für das Jugendamt schreiben, stets einsehen. Oft schätzen sie sich selbst falsch ein. Wir wenden hier die Marte-Meo-Methode an. Sie ist hilfreich, um Eltern für die Beziehung zu ihrem Kind zu sensibilisieren. Aber selbst, wenn wir nach einiger Zeit mit den Eltern und dem Jugendamt die Entscheidung treffen, dass ein Kind in einer Pflegefamilie besser aufgehoben ist, begleiten wir die Eltern auf diesem Weg stets wertschätzend.“
Das Leben in der Wohngruppe
So unterschiedlich die Betreuung auch ist – einige Routinen gelten in den Wohngruppen für alle Familien gleichermaßen. Feste Strukturen sind für die Kinder enorm wichtig. Jeden Tag gibt es daher um 12 Uhr Mittag- und um 18 Uhr Abendessen. Die Bewohner essen entweder gemeinsam mit anderen Familien im Gemeinschaftsraum oder bleiben in ihrem Appartement – je nachdem, wie es mit ihrem Bezugsbetreuer abgesprochen ist und wie groß der Hilfebedarf ist.
Wann gefrühstückt wird, richtet sich nach der Vormittagsgestaltung der Eltern. Die meisten haben keinen festen Job, wenn sie in die Wohngruppe ziehen, erzählt Anja Moussa-Sperber. „Wir bemühen uns darum, berufliche Perspektiven aufzuzeigen, und helfen bei der Suche nach einer geeigneten Tätigkeit. Unsere interne Kinderbetreuung hat unter der Woche von
7 bis 17 Uhr geöffnet. Einige Eltern nutzen die Chance und holen ihren Schulabschluss nach oder gehen arbeiten.“
Die Kinderbetreuung richtet sich alle Kinder unter drei Jahren. Vieles erinnert hier an einen öffentlichen Kindergarten. Obwohl die Betreuung im selben Haus stattfindet, bringen die Eltern ihre Kinder morgens mit Jacke, Rucksack und Schuhen vorbei. Vor der Tür hat jedes Kind seinen eigenen Garderobenhaken, tauscht Schuhe gegen Puschen und verabschiedet sich von der Mutter
oder dem Vater. Ältere Kinder besuchen die umliegenden Kindergärten.
Nach dem Abendessen, wenn alle Bewohner wieder zuhause sind, gibt es in Bad Laer noch ein ganz besonderes Ritual: die Kinderrunde. Dazu treffen sich alle Eltern, Kinder und Betreuer im Gemeinschaftsraum, um zusammen Zeit zu verbringen, zu singen und zu spielen. Diese Momente sind besonders wertvoll für die Förderung einer stabilen Etern-Kind-Beziehung.
Besuch zu festen Zeiten
Freunde und Partner der Klienten sind in den Wohngemeinschaften willkommen. Allerdings gibt es für sie einige Regeln. Feste Besuchszeiten sind für ein geordnetes Leben in einer so großen
Gruppe notwendig. Sie werden in Bad Laer von Bewohnern und Mitarbeitern gemeinsam erarbeitet. Unter der Woche darf Besuch hier nur nachmittags kommen, da an den Vormittagen
Termine wie Arztbesuche, Hilfeplangespräche oder Einkäufe anstehen. Ein An- und Abmelden jedes Besuchers bei einem Mitarbeiter ist Pflicht. Auch die Bewohner müssen sich stets an- und
abmelden, wenn sie unterwegs sind. „Wir achten sehr genau darauf, wer in unser Haus kommt. Mit Gästen, die wir noch nicht kennen, dürfen sich Bewohner zunächst nur in den Gemeinschaftsräumen aufhalten. Dort haben wir ein Auge auf sie. Erst, wenn wir Besuchern vertrauen, dürfen sie mit ins Appartement“, so die Teamleiterin.
Qualitätszeiten und Urlaube
Ein wichtiger Bestandteil des Lebens in der Wohngruppe sind die Qualitätszeiten. Diese haben Bewohner und Mitarbeiter ins Leben gerufen, um Zeit für Unternehmungen mit Mutter/Vater,
Kind und dem Bezugsbetreuer zu sichern. Gemeinsam planen sie einen Ausflug, gehen zum Beispiel schwimmen oder shoppen. Diese Zeiten sind nicht nur für die Eltern-Kind Beziehung
wertvoll, sondern auch für das Verhältnis zum Bezugsbetreuer.
Ein- bis zweimal im Monat haben Eltern mit ihren Kindern außerdem die Gelegenheit, ihre Familien zu besuchen. Vor dem Besuch schaut sich ein Mitarbeiter der Wohngruppe die entsprechende Wohnung an und lernt die Familie kennen. Er muss einschätzen, ob das Kindeswohl bei dem Ausflug gesichert ist. Denn nicht immer ist das Umfeld, das die Familien außerhalb der Wohngruppe erwartet, für das Kind geeignet. Daher werden die Besuche immer individuell abgestimmt und vorbereitet.
Ein Höhepunkt im Jahr ist der gemeinsame Urlaub mit der Wohngruppe. Für Eltern und Kinder ist der Urlaub eine wichtige Erfahrung. Den ganzen Tag mit dem eigenen Kind zu verbringen, ist einerseits schön, andererseits eine Herausforderung für viele Eltern. Daher begleiten mindestens zwei Betreuer jede Reise und helfen im Urlaubs-Alltag.
Und nach dem Auszug? Wenn sich die Zeit in der Wohngruppe dem Ende zuneigt, zum Beispiel, weil das Kind älter als sechs Jahre ist, haben viele Klienten Angst vor dem neuen
Lebensabschnitt. Daher wird der Auszug wenn möglich langfristig und intensiv vorbereitet. In der sogenannten Verselbstständigungsphase ist die eigenverantwortliche Lebensführung und der verantwortungsvolle Umgang mit Geld ein Schwerpunkt. Außerdem gibt es Hilfestellungen beim Übergang in die eigene Wohnung und bei Behördengängen.
Je nachdem, welche Maßnahmen das Jugendamt weiter unterstützt und wie weit der neue Wohnort von der Wohngruppe entfernt ist, ist eine mobile Nachbetreuung möglich. Dafür hält die FLEX® Jugendhilfe gGmbH verschiedene Angebote für die Verselbständigung vor.
Aber auch die Mitarbeiter der Wohngruppe haben zu vielen Familien noch lange nach dem Auszug Kontakt. Einmal jährlich gibt es ein Ehemaligen-Treffen mit Mitarbeitern und Eltern. Für viele
Bewohner ist es ein Wiedersehen guter Freunde – denn unter einigen Klienten entstehen in der gemeinsamen Zeit in der Wohngruppe enge Freundschaften. Die Mitarbeiter freuen sich besonders,
wenn sie erfahren, dass Eltern und Kinder die ersten gemeinsamen Schritte im neuen Umfeld erfolgreich bewältigen konnten.
Hintergrund: Marte Meo
In den Eltern-Kind-Wohngruppen der FLEX® Jugendhilfe gGmbH arbeiten die Pädagogen mit der Marte-Meo-Methode. Sie basiert auf der Videoaufzeichnung einer Alltagssituation zwischen Mutter/Vater und Kind. Gefilmt wird zum Beispiel das Spielen oder das Füttern des Kindes.
Anschließend schaut sich eine für die Methode ausgebildete Fachkraft die Szene mit der Mutter/dem Vater an und gemeinsam besprechen sie die Situation. Das hilft Eltern bei der Reflektion ihrer Interaktion mit dem Kind und sensibilisiert sie dafür, wie wichtig dabei das eigene Verhalten ist. Wie stark auch Kinder, die noch nicht sprechen können, auf die Stimme und den Tonfall der Eltern reagieren, wird vielen erst bewusst, wenn sie sich selbst beobachten können.
Ziel dieser Methode ist eine Stärkung der Eltern-Kind-Bindung und eine Verbesserung der Interaktion.